Die rohe Wahrheit. Ein Abend in der Stinky Truth Boutique in Berlin-Kreuzberg. Ein intimer Raum, fast wie ein Wohnzimmer – bescheiden, eng. Keine sterile Laufstegästhetik, kein Hochglanz, sondern eine Bühne für das Ungefilterte, Unvollkommene und Echte. Anima Protection, ein Teil von Stinky Truth TV Live, ist eine Konfrontation mit dem Selbst.
Inspiriert von Andy Warhols experimentellen Videoarbeiten und der interaktiven Kunst von Mike Hentz, verschmelzen hier Mode, Performance und soziale Reflexion. Es ist ein Gegenentwurf zur makellosen Ästhetik sozialer Medien, eine Hommage an das Rohe, Rebellische und Ungeordnete.
Der Raum: Intimität, Projektion und Öffentlichkeit
Die Inszenierung spielt mit verschiedenen Ebenen der Wahrnehmung. Es gibt keinen klassischen Catwalk, sondern eine intime Spiegel-Performance inmitten der Zuschauer. Hier werden die Models nicht nur von anderen betrachtet, sondern auch von sich selbst. Sie ziehen sich aus, analysieren sich, kritisieren sich – dann ziehen sie sich wieder an, als würden sie sich selbst neu erfinden.
Im anderen Raum läuft eine Projektion dessen. Ein dreiminütiger Film zeigt die Models in einer fast anderen Realität. Das Zusammenspiel aus Live-Performance und Projektion verstärkt den Eindruck von Inszenierung und Authentizität – was ist echt? Was ist eine Rolle? Die Grenzen zwischen Innen und Außen, zwischen Intimität und öffentlicher Wahrnehmung verschwimmen.
Fragmentierte Identität, nachhaltiger Ausdruck
Die Kollektion ist ein Spiegelbild der Individualität – unfertig, aber voller Charakter. Upcycling ist nicht nur eine Produktionsweise, sondern ein Konzept, das sich durch die gesamte Inszenierung zieht: Denim verwandelt sich in Kleider und Stulpen, Pullover entstehen aus fragmentierten Strickwaren, Schnitte sind bewusst ungenau, Säume fransen aus, als ob die Kleidungsstücke eine Geschichte erzählen. Ein zersetzter Charakter zieht sich durch die Outfits – nicht als Nachlässigkeit, sondern als bewusste Ästhetik.
Jedes Kleidungsstück wird von der Performance des Models aufgeladen:
Ein schwarzes, geknotetes Jersey Kleid wird zur Hülle eines inneren Kampfes. Die Trägerin raucht, schaut sich kritisch im Spiegel an – Unzufriedenheit und Rebellion verschmelzen zu einer kathartischen Bewegung.
Upcycling-Denim als Kleid und Stulpen – eine andere Performerin gibt sich dem Rhythmus hin, tanzt, singt, lässt sich in der Musik treiben. Der Kontrast zwischen Anspannung und Befreiung.
Ein Strickwaren-Sweater, scheinbar wahllos zusammengesetzt, wird zur Leinwand für eine dynamische Live-Mundharmonika-Performance – Unabhängigkeit und Ausdruck im Klang und in der Bewegung.
Ein Babydoll-Kleid mit Falten – zart, aber nicht naiv. In der Performance wird es zur Hülle einer Stärke, die sich in einer unerwartet körperlichen, kraftvollen Choreografie entlädt.
Jedes Outfit erzählt eine persönliche Geschichte. Sie sind nicht perfekt, nicht uniform, sondern fragmentiert – so wie die Identität der Träger, die sich in ihrer Haut mal wohl, mal fremd fühlen. Die Mode ist ein Spiegel der Selbstwahrnehmung, aber auch ein Mittel zur Selbstbefreiung.
Der Rhythmus der Selbstfindung
Die Musik unterstreicht die Dualität der Performance. Erst angespannt, rhythmisch, fordernd – ein Soundtrack für den Kampf auf dem „Laufsteg“. Hier müssen sich die Models beweisen, in einer Welt, die von Perfektion und Erwartung geformt ist. Doch dann bricht die Spannung – die Musik wird frei, gelöst, weich. Vor dem Spiegel dürfen sie sein, wie sie sind.
Das wahre Ich hinter der Fassade
Anima Protection ist ein Plädoyer für Individualität, für das Imperfekte, für die Befreiung aus gesellschaftlichen Erwartungen. Die Mode ist roh, die Performance ungeschönt, die Emotionen ungefiltert. Es ist eine Kritik an der Glätte der Modeindustrie und an der Selbstinszenierung in sozialen Medien.
Hier gibt es kein Photoshop, keine makellosen Nähte, keine einheitliche Ästhetik. Jedes Stück erzählt von einer zerrissenen, komplexen, aber wunderschönen Identität. Die Models enthüllen nicht nur ihre Kleidung, sondern auch sich selbst – und in diesem Moment entsteht etwas, das echter ist als jeder perfekt inszenierte Laufstegmoment.
In einer Welt, die uns ständig sagt, wer wir sein sollen, ist Anima Protection ein Akt des Widerstands. Ein Ausbruch. Ein Spiel mit dem Ich und der Selbstoffenbarung. Und genau darin liegt seine Schönheit.
Autor: Luna-Marie Grande Matos – Fotos: Dylann Joffard
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